Hochsensibel sein als Stärke: Mimosen wollen blühen

hochsensibel: die Mimose symbolisiert Hochsensibilität (HSP)

„Sei doch nicht so eine Mimose!“ Wer hochsensibel ist, hört diesen Satz häufig.  Aber wie ist man keine Mimose? Ich glaubte, dass ich „anders“ sei. Und wer will schon „anders“ sein? Wer anders ist, gehört irgendwie nicht dazu. Aber genau das, spüre ich immer wieder. Ich  dachte schon immer, dass mit mir etwas nicht stimmt, ich einen Vogel hätte und in Behandlung gehöre. Das „Anders“ begleitete und belastete mich schon als Kind und wurde in der Pubertät stärker. Auch im Studium und in der Arbeit war es da – mal mehr, mal weniger. Ganz schlimm war es als ich zum ersten Mal Mutter wurde. Da spürte ich meine eigenen Grenzen ganz deutlich und wollte besser damit umgehen lernen. Vor gut zwei Jahren habe ich die Gewaltfreie Kommunikation entdeckt und damit einen Weg gefunden, mich so anzunehmen wie ich bin. Das war schon mal ein sehr wichtiger Schritt. Vor etwa einem Jahr stolperte ich über das Thema Mutter sein und hochsensibel.

Als hochsensibel wiedererkannt

Eigentlich hatte ich keine Lust, mich damit zu beschäftigen, dass ich hochsensibel bin und ließ es erst mal sein. Bis ich vor ein paar Wochen wieder auf das Thema gestoßen bin. Inzwischen habe ich verschiedene Tests gemacht und ein paar Bücher gelesen. Bei den Tests kam heraus, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit hochsensibel bin. In den Darstellungen der Bücher habe ich mich wiedererkannt. Nun hat mein „Anders“ also einen Namen und so langsam freunde ich mich damit an. Aber was genau ist Hochsensibilität?

Vererbbares Persönlichkeitsmerkmal

Die Wissenschaft geht davon aus, dass etwa 15 bis 20 Prozent aller Menschen weltweit von Hochsensibilität betroffen sind. Das sind eigentlich gar nicht so wenige: ein bis zwei von 10 Personen wären damit hochsensibel. Also gut möglich, dass ich noch andere Hochsensible kenne ohne das zu wissen. Viele wissen es vermutlich selber nicht. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sogar Familienmitglieder von mir hochsensibel, denn dieses Persönlichkeitsmerkmal vererbt sich. Es läßt sich nicht ändern – fast so wie man als Mann oder Frau geboren wird.

Hochsensibel: „Highly Sensitive Person“

Die amerikanische Psychologin Elaine Aron hat hochsensible Menschen als Erste ausführlich wissenschaftlich erforscht und beschrieben. Von ihr stammt der Begriff „Highly Sensitive Person“, kurz HSP.  Ihr Buch „Sind Sie hochsensibel? Wie Sie Ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen“ erschien in den USA 1996. Sie ist selbst hochsensibel. Über ihren Fragebogen kannst du herausfinden, ob du selbst hochsensibel bist.

Wer hochsensibel ist, unterscheidet sich laut Aron von Nicht-Hochsensiblen durch vier Kriterien:

1. Eine stark ausgeprägte individuelle Wahrnehmungsfähigkeit
2. Die Neigung zur Überstimulation
3. Das lange Nachhallen von Wahrgenommenem
4. Eine schmale Komfortzone

Wahrnehmung wird bei HSP kaum gefiltert

Den Beschreibungen zufolge nehme ich als Hochsensible meine Umwelt viel intensiver wahr als Nicht-Hochsensible. Ich habe eine erhöhte Empfänglichkeit für Reize – sowohl äußere als auch innere. Nach außen nehme ich mit allen Sinnen intensiver und detaillierter wahr. Über die Sinnesorgane nehmen HSP im Vergleich zu Nicht-HSP mehr Informationen auf und verarbeiten diese. Meine Wahrnehmungsfilter blenden störende Einflüsse kaum aus. So fühle ich mich schnell genervt und ausgelaugt, wenn ich mit unangenehmen oder lauten Geräuschen, grellem Licht oder schlechter Luft konfrontiert bin. Auch raue oder kratzige Stoffe auf der Haut mag ich nicht. Eventuell ist auch meine Schmerzempfindlichkeit höher. Ich spreche hier tatsächlich von mir, weil ich nicht weiß, wie sich andere nicht-hochsensible Menschen fühlen. Es scheint mir plausibel, dass ich mehr Dinge um mich herum wahrnehme, die anderen entgehen.

Schnell überstimuliert

Durch meine intensive Wahrnehmung fühle ich mich als Hochsensible schnell mit Reizen überflutet und überstimuliert. In bestimmten Situationen fühle ich mich deutlich eher gestresst als Nicht-Hochsensible. So kann ein Ausflug in die Stadt schon eine Herausforderung werden: viele Menschen, Stimmengewirr, verschiedenste Gerüche, verschiedenste Geräusche. Ich nehme viele Details wahr.

Hang zum Nachdenken und Grübeln

Die intensivere Wahrnehmung betrifft auch mein Innenleben. So nehme ich Gefühle tiefer wahr und diese Gefühle wirken noch länger nach als bei Nicht-HSP. Ich denke auch mehr und gründlicher über einzelne Dinge oder Ereignisse nach als Nicht-HSP und zwar auf ganzheitliche Weise. Gespräche hallen oft noch lange in meinen Gedanken wider. Das kann jedoch auch dazu führen, dass ich mich mit Selbstkritik geißele, wenn etwas nicht so gelaufen ist, wie ich mir das gewünscht habe. Ich führe das auf  mein sehr großes Bedürfnis nach Sinn zurück. Viele HSP fühlen sich von Religiösem oder Spirituellem angezogen. Manchen sagt man sogar nach in die Zukunft sehen zu können. Häufig überraschen schon hochsensible Kinder mit praktischen Problemlösungen oder sogar philosophischen Überlegungen.

Komfortzone: Ist doch gut!

Durch die intensive Wahrnehmung und die ständige Gefahr der Überstimulation  habe ich als HSP nur eine schmale Komfortzone. Damit ist der persönliche Wohlfühlbereich gemeint. Ich finde, dass dieser Begriff eher negativ besetzt ist. Man soll nicht so bequem sein und die Komfortzone verlassen. Dabei ist sie etwas sehr Wichtiges, nämlich der Bereich, wo man sich am wohlsten fühlt. Körperlich und seelisch ist alles im Lot. Man fühlt sich ausgeglichen und mit sich im Reinen. Warum sollte ich diesen Bereich verlassen wollen? Aber gerade weil die Komfortzone bei Hochsensiblen so schmal ist, gerät man schnell nach außen.  Dann droht sehr schnell wieder ein Zuviel. Daher meide ich gerne zu viel und zu schnelle Veränderungen in meinem Leben. Dass das nicht immer geht, ist für HSP eine besondere Herausforderung.

Menschen mit Charakter

Aus diesen vier Kriterien ergeben sich besondere Bedürfnisse, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften von Hochsensiblen, die typisch sind, aber nicht bei allen gleichermaßen ausgeprägt sein müssen. Trotz vieler Gemeinsamkeiten gibt es also unter HSP viele Unterschiede. So werden HSP eher als introvertiert beschrieben. Dennoch gibt es auch Extrovertierte. Man geht von einem Verhältnis von 70 zu 30 Prozent aus. Eine keine Gruppe HSP scheint mit der Flut von Reizen  kein Problem zu haben. Diese Hochsensiblen suchen Reize. Sie brauchen sie sogar, weil sie sich sonst langweilen und unterfordert fühlen – sogenannte „Sensation Seeker“

Introvertiert, aber gesellig

Da wir Hochsensiblen leiser und vorsichtiger auftreten als Nicht-Hochsensible werden wir oft als schüchtern, ängstlich oder gar depressiv wahrgenommen. Dies wird den Hochsensiblen aber nicht gerecht. Hochsensibilität ist keine Krankheit, sondern ein Wesenszug, der durch die von Nicht-HSP unterschiedliche Wahrnehmungsverarbeitung einhergeht. Introvertiertheit ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Ungeselligkeit. Da ich sehr genau wahrnehme und jedes Wort auf die Goldwaage legen, brauche ich länger, um Kontakte zu knüpfen. In banale Situationen interpretiere ich zu viel hinein. Small Talk, wo nur über Oberflächliches geredet wird, musste ich daher lernen. Auf Partys mit vielen Gästen bin ich abgelenkt von der Geräuschkulisse, den Menschen und Gerüchen und versteife mich. Häufig ist dann wieder Rückzug angesagt.

Was stimmt nicht mit mir?

Leider bekommen HSP immer wieder Sätze wie: „Stell dich doch nicht so an.“ Oder „Hab dich nicht so“ oder „Sei doch nicht wie eine Mimose!“, „Du sagst ja gar nichts.“ zu hören. Darunter leidet das Selbstbewusstsein und Hochsensible kommen – wie ich – zu dem Schluss, dass mit ihnen etwas nicht stimmt.

Gute Zuhörer

Dabei verfügen viele von Hochsensibilität Betroffene über eine hohe Empathie-Fähigkeit. Sie können also gut zuhören und sich in die Gefühls- und Bedürfniswelt ihrer Gesprächspartner einfühlen. Wer das einmal erkannt hat, wird mit einem HSP eine gute, tragfähige Freundschaft eingehen können. Mitgefühl oder gar Mitleiden führt häufig jedoch dazu, dass Hochsensible Probleme haben sich abzugrenzen. Wenn sie berührt sind, fällt es ihnen schwer sich zu distanzieren und die Gefühle beim anderen zu belassen. Sie fühlen eine große Verantwortung. HSP fühlen sich verantwortlich für ihre Mitmenschen, Tiere, die Natur oder Hilfsbedürftige.

Vorsicht Kritik!

Werte überhaupt sind sehr wichtig für Menschen, die Hochsensibilität haben. So ist es für mich selbstverständlich mich bei der Arbeit sehr zu engagieren und ich habe sehr hohe Ansprüche an mich. Daher ist Kritik für mich schwer anzunehmen. Überhaupt sind Situationen, wo ich bewertet werde, etwa Prüfungen oder Vorstellungsgespräche, sehr schwierig auszuhalten. Ich spreche aus leidvoller Erfahrung.

Bitte kein Streit

Harmonie ist ein weiteres Bedürfnis, das allen HSP gemein zu sein scheint. Das ist aber nicht verwunderlich, wenn wir an die schmale Komfortzone denken. Wo das Rückzugsgebiet so klein ist, braucht man nicht noch Unruhe oder gar Streit. Auch die Bedürfnisse nach Gerechtigkeit und Ehrlichkeit sind sehr ausgeprägt. Daraus resultiert dann wieder das eine oder andere Engagement für eine gute Sache.

Zartbesaitet und schüchtern?

Übrigens betrifft Hochsensibilität Frauen und Männer gleichermaßen. Aber klar, dass Männer noch eher Probleme damit haben, als zartbesaitet, still oder schüchtern abgestempelt zu werden. Entsprechen die Stärken der Hochsensiblen also großes Mitgefühl, hohes Harmoniebedürfnis und reiches Innenleben nicht den derzeit geltenden Idealen in unserer Gesellschaft. Gerade von Männern wird erwartet, dass sie im Außen präsent sind. Sie sollen gefälligst ganze Kerle sein und ihre Leistung bringen. Aber auch für Frauen und gerade Mütter ist es schwierig die eigenen Grenzen zu akzeptieren, wenn doch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie schon für Nicht-Hochsensible ein Balanceakt ist, der nicht selten zum Burnout führt. Für alle gilt, dass Extrovertiertheit lieber gesehen wird als leise Töne.

„Priesterliche Ratgeber“

Dabei werden gerade Verantwortungsgefühl und Gerechtigkeitssinn oder eine disziplinenübergreifende Denkweise zur Lösung von Problemen in unserer Welt heute gebraucht wie nie. Da könnten die Stärken der Hochsensiblen zum Tragen kommen. Elaine Aron schreibt, dass der Erfolg der indogermanischen Völker nicht zuletzt durch die „priesterlichen Ratgeber“ zustande kam. Das sind Priester, Richter oder Berater, die mit Weitsicht handeln und die expansive Impulsivität der „kriegerischen Könige“ ausbalanciert. So finden HSP gerade in diesen Bereichen auch heute noch ihren Beruf oder gar eine Berufung. Nicht zuletzt sind diese Stärken auch für Mütter sehr wichtig.

Sich hochsensibel zeigen

Ich bin mir sicher, dass mir dieses Wissen in der Zukunft weiterhelfen wird, um aus meinem Herzen zu sprechen. Klar ist, dass es in dieses Blog gehört, weil es zu meinem Lebensgefühl gehört. Ich kann eben nur aus Sicht einer Hochsensiblen schreiben. Und der Weg zu mehr Selbstbewusstheit durch Gewaltfreie Kommunikation hat ganz viel damit zu tun, dass ich hochsensibel bin. Schließlich möchte ich mich so zeigen, wie ich bin. Und ich möchte dir einen Weg zu mehr Empathie, Energie, Klarheit und Glück zeigen. Aber möglicherweise funktioniert dieser Weg, so wie ich ihn hier beschreibe, für hochsensible Mütter besser als für andere. Denn, wir Mimosen wollen blühen und unsere Stärke leben.